Peterchens Mondfahrt
Die wunderbare Geschichte von Peterchens Mondfahrt schrieb Gerdt von Bassewitz - und er soll sie in Königstein im Taunus geschrieben haben. So wird es zumindest erzählt. Tatsache ist, dass Gerdt von Bassewitz tatsächlich einige Wochen im Sanatorium Dr. Kohnstamm verbrachte. Die Kinder aus dem Märchen könnten also Peter und Anneliese, die beiden Kinder von Dr. Oskar Kohnstamm, sein. Könnten, wie gesagt... denn bewiesen ist es nicht. Aber es ist ein schöner Gedanke.
Meine Fassung verbindet Teile des Märchens mit dem Leben des Autors Gerdt von Bassewitz.
Peterchens Mondfahrt
Sumsemann hieß der dicke Maikäfer, der im Frühling auf einer Kastanie im Garten von Peterchens Eltern hauste, nicht weit von der Großen Wiese mit den vielen Sternblumen.
Was… was nur hat mich hierhergeführt?
Vor vielen hundert Jahren nämlich, als der Urahn der Familie Sumsemann sich gerade verheiratet hatte, geschah ein großes Unglück: Er war mit seiner kleinen Frau im Wald spazieren geflogen an einem schönen Sonntagabend. Sie hatten viel gegessen und ruhten sich ein wenig auf einem Birkenzweig aus. Da sie aber sehr mit sich selbst beschäftigt waren, merkten sie nicht, dass ein böser Mann durch den Wald herbeikam: ein Holzdieb. Der schwang plötzlich seine Axt und hieb die Birke um.
Das Holz erstarrte, feinster Staub wirbelte auf und floh durch die Lüfte davon. Es ist der 4. Januar 1879. Mutter, Vater und ich in Allewind – irgendwo im Königreich Württemberg.
Und so schrecklich schlug er zu, dass er dem Urgroßvater Sumsemann ein Beinchen mit abschlug. Fürchterlich war es! Sie fielen auf den Rücken und wurden ohnmächtig vor Angst!
Ich war neun als ich zur Schule kam. Das Allumnat der Herrenhuter Brüdergemeinde Niesky bei Görlitz.
So war der letzte Sumsemann denn auch eines schönen Abends in das Schlafzimmer von Peterchen und Anneliese geraten, als die Kinder gerade von der dicken Minna zu Bett gebracht wurden.
Putbus bei Görlitz. Das Königliche Pädagogium. Hier war ich glücklich.
So war also wirklich der große Augenblick für den letzten der Sumsemanns gekommen: Zwei gute Kinder fragten ihn nach seinem Beinchen.
Mein Vater fragte nicht, er bestimmte. Der Offiziersberuf sei für mich am geeignetsten. Ich ging nach Metz in die Kriegsschule - eine für mich sehr interessante Zeit.
Viele hundert Jahre hatten seine Ahnen und Vorfahren dies ersehnt und waren totgeschlagen worden. Und jetzt – jetzt! Ihm wurde ganz grün vor den Augen, seine Flügel zittern vor Aufregung und beinahe wäre er auf den Rücken gefallen. Aber er beherrschte sich doch, so gut es ging, holte tief Luft und…
...ich erholte mich nur langsam. Gleich im Juli 1900 habe ich mir bei einer Felddienstübung einen Herzfehler zugezogen. Die Badekur in Nauheim half nur wenig. Im Frühling wurde ich nach Sonnenburg beordert, als Kommandeur der Zuchthauswache. Mein Herz, das stotterte immer noch. Ich nahm meinen Abschied.
Herr Sumsemann fand das ganz in Ordnung, denn das Brummen gehörte ja bei den Maikäfern auch zum Fliegen. Nun also konnte das große Abenteuer beginnen.
Ich hatte wohl einige Gedichte gemacht und gelegentlich auch einige Essays geschrieben, aber nie war ich dazu gekommen, den Interessen, die meiner Anlage entsprachen, ernst nachzugehen. Die Vorbildung, wissen Sie, die Vorbildung fehlte. Und das Pflichtgefühl, dieses verdammte Pflichtgefühl.
Gelb und rund stand der Mond über der Sternblumenwiese vor
dem Fenster. „Es ist sehr weit“, sagte der Maikäfer, obgleich es sehr nah aussah.
Ein Drama… damit begann mein ernsthaftes literarisches Arbeiten. „Urstreit“, hieß mein erstes Werk, das aus rein äußerlichen Gründen nicht zur Aufführung kam.
Jetzt waren sie so weit. Sie stellten sich hintereinander auf: der Maikäfer vorn, mit der kleinen Geige, dann Peterchen, dann Anneliese. Das Liedchen ertönte, sie hoben die Arme, machten die Schritte und … plötzlich ging die Wand des Zimmers weit auseinander, die Sternblumenwiese lag vor ihnen, von Tausenden von Glühwürmchen beleuchtet, und die drei flogen hinaus … über die Wiese hin … immer weiter … auf den großen, goldenen Mond zu, der vor ihnen über die Bäume guckte…
und Gorki`s Nachtasyl verfolgte. Die Aufführung meiner Laienbühne fand vor etwa 60 geladenen Personen statt. Was für ein Erfolg! Ich inszenierte weiter „Hanneles Himmelfahrt“ und „Strom“, zuletzt „Deutsche Kleinstädter“. Und ich schrieb weiter und...
dann lag die ganze Erde dort unten, unermesslich tief in der blauen, stillen Nacht, mit allen ihren Ländern und Meeren – die große, liebe Erde in tiefem Schlaf. Das Herz klopfte den Kindern, aber…
ich war tapfer. Auch wenn es mir nicht gut ging. Ich habe es nie erwähnt und auch in keiner Gästeliste bin zu finden. Zumindest nicht 1911. Da können Sie lange suchen. Nur dieser Komponist Klemperer klimperte in seiner Biografie „Er lernt einen seltsamen mecklenburgischen Adligen kennen, Gerdt von Bassewitz-Hohenluckow, der einmal Leutnant der preußischen Landwehr gewesen ist, sich aber zum Entsetzen seines Clans der Literatur zugewandt hat. In Königstein schreibt er ein Märchen für zwei der vier Kohnstamm-Kinder, Peter und Anneliese, drei und elf Jahre alt, dem er den Titel Peterchens Mondfahrt gibt.“
Es war die Sternenwiese, der sich die drei näherten. Sie liegt mitten im Himmel und war die erste Station auf ihrer Fahrt. Auf der großen Sternenwiese wohnt das Sandmännchen, das eine sehr wichtige Persönlichkeit im Himmelsraum ist und viele Ämter hat. So schickt das Sandmännchen den Kindern den Schlaf und auch die schönen Träume.
Nachts, wenn alle schlafen in der Villa Kohnstamm und fest in ihren Träumen liegen, zieht es mich hierher. Weiße Blümchen stehen auf der Wiese und schimmern sternengleich im silbrigen Licht des Mondes. Ich spüre den Wind in den Haaren, das weiche Gras unter meinen Füßen und erwecke meine Geschichten zum Leben.
Bum – bum – bum! Hier ist der Mond!
Rausgeschmissen wird, wer hier nicht wohnt!
Was für ein Triumpf. Mein „Judas“ wurde in Leipzig gefeiert. Und diese kleine Oppositionsclique? Mit überwältigender Mehrheit wurde sie einfach niedergekämpft. Dann „Peterchens Mondfahrt“. Wieder Leipzig. Das Bühnenstück.
Ja, von der Geschichte hatte der Sandmann schon gehört. Sie war einmal auf einem Kaffeeklatsch bei der Nachtfee erzählt worden, vor etwa tausend Jahren. Und damals waren alle Gäste sehr gerührt gewesen von dem Schicksal der Sumsemänner.
Nein, sie war nicht zu Ende erzählt, die Geschichte der Sumsemänner. Das Bühnenwerk sollte ein Märchenbuch werden, ein Prosabilderbuch für Kinder.
So ein Sternchenkuss schmeckt so köstlich, dass man es wirklich gar nicht beschreiben kann. Man muss es erleben; und man erlebt es,
wenn man gut ist.
Ein kleines Hotel in Zeebrügge. Ruhe. Zeit. Vollendung. Drei Jahre verfolgte mich das Werk nun schon, jetzt wollte ich den „Wahrhaftigen“ beenden. Ein tragisches Gleichnis in vier Akten.
Gerade heute, um zwölf Uhr mitternachts, gab die Nachtfee in ihrem Schloss einen Kaffeeklatsch für die Naturgeister. Der Sandmann war ebenfalls eingeladen.
Halt! Der Krieg fauchte seinen mordlüsternen Atem über die Welt. Doch ich tanzte auf der Welle der Begeisterung. Als „bedingt garnisonsdienstfähig“ wurde ich für Kraftfahrtruppen als Leutnant a.D. in den Herresdienst aufgenommen.
Die Nachtfee war sehr mächtig, viel mächtiger als er. Sie war es ja auch gewesen, die vor vielen hundert Jahren den bösen Holzdieb auf den Mondberg verbannt und den Sumsemännern erlaubt hatte, mit lieben Kindern das Beinchen von dort wieder herunterzuholen.
Ich habe die ganze deutsche Front von Reims bis Straßburg gesehen. Und Grunwald war immer mit dabei. Der Direktor vom Künstlertheater teilte meine geistigen Interessen. Er ging dann an die Front, ich nach Nauheim.
Ein schneeweißer Schlitten war es, der von acht Nachtfaltern an silbernen Bändern gezogen wurde. Lautlos wie ein Wölkchen glitt er heran und hielt vor den Kindern. Millionen Lichtflocken tanzten um sie herum – winzige, sprühende Sternchen. Sie stiebten so dicht um den Schlitten, dass man vor lauter Fünkchen nichts mehr sehen konnte
Während der Kur im April 1915 schrieb ich dann mein Märchenspiel: „Pips, der Pilz“.
Mitternacht! Die Welt schlief ein:
Frieden, Frieden soll über ihr sein!
Mit tausendfachem Echo nahm der Himmelsraum diesen Segensspruch auf. Wie von fernen Chören gesungen, so klang es, immer weiter, immer leiser: Frieden, Frieden soll über ihr sein!
Die Bäder in Nauheim waren wohl allzu stark. Dazu die Arbeit an dem Märchenspiel. Meine Nerven schafften das einfach nicht.
Alle Gäste der Nachtfee waren nun eingetroffen. Der Sturmriese heulte vor Lachen, der Donnermann trommelte sich den Bauch und hätte sich beinah bei einem Dönnerchen verschluckt, der Wassermann quakte wie ein betrunkener Frosch, der Regenfritz jaulte vor Freude wie ein verstimmter Leierkasten, die Blitzhexe schrie und stank, die Windliese pfiff und summte, der Eismax meckerte wie ein Ziegenbock vor Vergnügen – kurz, es war ein Höllenlärm.
Ich wurde in den Osten kommandiert. Ein Blick in die polnische und russische Seele. Literarisches Arbeiten? Nein, dazu kam ich nicht. Und dann dieser - klitzekleine - Ärger über die Unaufrichtigkeit eines Offiziers.
In alldem stand das Sandmännchen ganz ruhig, hatte die beiden Kinder, jedes an einer Hand und den Maikäfer hinten an seinem Schlafrockzipfel.
Ich brach zusammen, vollkommen. Nun kam der Große Bär, vom Milchstraßenmann an der Kette geführt, durch die Wolken herbei. Er schnaufte einmal und noch einmal wie eine Lokomotive und stürmte dann aus dem Saal über die Wolkenberge, die das Schloss trugen, hinaus ins Weite, so rasend schnell, dass den Reitern fast Hören und Sehen verging.
Ich hatte sie verloren, meine Ruhe. Nicht in der Nervenheilanstalt in Königstein, nicht am Schluchsee im Schwarzwald fand ich sie wieder. Hatte ich sie überhaupt jemals besessen, die Ruhe?
Hoch oben, auf der höchsten Spitze des Bergs, hauste der Mondmann und dort stand auch in einem kleinen Wald die Birke, an der das Beinchen damals hängen geblieben war. Auf dem Mond war eigentlich alles sonderbar und wunderlich, aber auf dem Gipfel des Mondbergs war es doch am allerseltsamsten.
Zurück nach Potsdam zu meiner Arbeit.
„Hurra!“, schrie Peterchen plötzlich. „Da hängt das Beinchen – ich sehe es, ich sehe es!“ Da ereignete sich etwas Unerwartetes: Hinter einem großen Stein sprang plötzlich der Mondmann zähnefletschend und brüllend hervor. Gräulich sah er aus! Riesengroß war er, hatte ein graues, verhungertes Gesicht, so voller Falten und Runzeln wie ein alter Stiefel. Schauderhaft hässlich.
Weihnachten 1916, mein Vater, Familie und Anderes. Meine Nerven. Wieder. Ein schwerer Rückfall. Ich brauchte Hilfe und eine dauernde ärztliche Behandlung im Sanatorium Neubabelsberg.
Dann war der Donnermann wieder in der Nacht verschwunden und nur ein fernes Rollen hörte man noch, das bald verklang. Da lag der Mondmann nass wie ein Pudel, aber doch noch nicht ganz so leblos, denn von Zeit zu Zeit schnaufte er.
Ich werde wohl zu meiner Mutter nach Hohenwalde auf`s Land gehen. Der „Wahrhaftige“ wartet, ich muss ihn endlich beenden.
Rauschend fuhr es aus der Höhe herunter mit pechschwarzen, riesigen Flügeln über den Mondberg hin ging ein Wirbelwind, dass sich die grauen Bäume, die so tot und unbeweglich gestanden hatten, knisternd bogen, gleich Grashälmchen auf einer Wiese.
Und immer wieder „Peterchens Mondfahrt“. Mein größter Erfolg und doch war ich unbekannt.
Sternchen, Sternchen kommt herbei.
Ein weißes Leuchten ging vom Himmel nieder und neben den Kindern standen in einer Geschwindigkeit, die man sich nicht vorstellen kann, ihre beiden Sternchen mit gegen den Mondmann hoch erhobenen Händen.
Selbst Peter Kohnstamm kann sich nicht mehr an mich erinnern. In Uniform, ein schöner stattlicher Mann sei ich gewesen, der ihn an irgendeinen Sänger erinnerte.
Herr Sumsemann, Herr Sumsemann,
sehen Sie sich mal Ihr Beinchen an!
Groß, nervös, trockenes Gesicht, Spiel in der Taille, gut behandelter starker Körper. Kafka. Kafka wusste es auch nicht besser!
Nun leuchtete plötzlich ein wundersam fremder Schein aus dem dunkeln Himmel über dem Mond. Der graue Boden bekam eine Farbe gleich grünrot überlaufenem Silber, auf allen Bäumen und Pflanzen funkelte der Mondstaub wie rosenroter Schnee. Über der höchsten Bergzinne aber, gerade vor sich, sahen die Kinder im gleichen Augenblick die liebliche Tochter der Sonne, die Morgenröte. Sie hatte die Arme über das Haupt erhoben, von ihren Händen tropften Rubinenfunken und rote Nebel wehten aus ihrem Haar.
Wäre es nach meinem Willen gegangen, hätte ich wohl Astronomie studiert. Was bleibt sind meine Worte, Sätze und Bücher. Essays, Dramen und Märchen. Mein Leben behalte ich für mich.
Da öffnete sich der Boden und die drei Abenteurer sanken eng umschlungen hinab in die Tiefe.
Februar 1923. Dunkle Wolken ziehen über den Himmel und machen der Sonne kaum Platz. Es ist kalt. Ich lese in der Villa Siemens am Wannsee aus „Peterchens Mondfahrt“ und gehe. Eilig und freiwillig.
Also, das Abenteuer war nicht umsonst gewesen, die Beincheneroberung war geglückt, wirklich geglückt, und die Sumsemanns waren nach tausend Jahren zu ihrem Recht gekommen durch die Taten Peterchens und Annelieses.
Ade, ade, Herr Sumsemann,
kommen Sie gut zu Hause an!