IN EINER ANDEREN ZEIT
Kate
Ich habe gelogen. Wieder und wieder. Das erste Mal im Herbst 1936. Das letzte Mal gestern, am 16. Juni 1988. Dazwischen ein Ozean der Leere. 51 Jahre, 8 Monate, wie viele Tage. Ich erinnere mich genau. Ich war so jung. Und ich war naiv. Ich glaubte wirklich, ich könnte das Leben mit einer einzigen Lüge gefügig machen.
Der Wagen rumpelte die Straße entlang und hielt vor unserem Haus. Die stumpfe, staubige Wolke, die dem Auto gefolgt war, verharrte einen Moment in der Luft und fiel in sich zusammen. Wie immer lag der Arm von John Petruccio lässig im Fenster und wie immer grinste er mich an, als ich an sein Auto trat. Es war genau dieses Lächeln, das sein vernarbtes Gesicht verschwinden ließ, und das aus dem gefährlich aussehenden Mann, einen freundlichen Nachbarn machte. Doch dieses Mal war es anders. Ich konnte die Bestimmtheit in seinen Augen erkennen.
„Hi, Kate. Wo finde ich Deinen Dad.“
„Was gibt es, John?“ Mit schweren Schritten betrat mein Vater die Veranda unseres Hauses und blieb an der Treppe, die zur Auffahrt führte, stehen.
„Es ist soweit, Will.“
Mein Blick schweifte von meinem Vater zu John und wieder zurück. Ein kurzes Nicken, zwei Finger, die an den Hut tippten und das mit zwei ebenso kurzen Schlägen an die Schiebermütze erwidert wurde. Noch heute sehe ich meinen Vater auf der Veranda stehen, die Hände lässig im Gürtel eingehakt. Das karierte Hemd, die unbeugsamen Jeans, die wilden Stiefel. Der Funken Anspannung, der von John auf Will übergesprungen zu sein schien. Kurz ruhte sein Blick auf mir, dann drehte er sich um und ging wieder in das Haus. Drei Tage später klopfte ein Mann an unsere Tür und mein Vater ließ ihn bereitwillig ein.
George. Sein Name blitzte in meinem Kopf auf, wand sich durch meinen Körper und verwandelte sich in Schmetterlinge, die mich beben ließen. Ich war verloren. Das dunkelblonde Haar, die markanten Gesichtszüge, die braunen Augen, in deren Schatten nur ein schwacher Schimmer glimmte. Ich wollte, dass das Leben in seine Augen zurückkehrte, ich wollte diejenige sein, die das Licht in ihnen anzündete. Ich wollte das Licht sein.
Was mich dazu brachte, seine Briefe zu nehmen, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht spürte ich die Gefahr, vielleicht spürte ich das Verlangen, das in ihnen wohnte. Vielleicht war es nur eine Gelegenheit, die Taylor Williams mir verschaffte. Der Postmeister sortierte die Briefe gewissenhaft und verteilte sie auf dem Tresen, den er im hinteren Bereich seines Ladens aufgebaut hatte. Am Anfang der dunkelbraunen Holzlatten lagen die Schreiben, die angekommen waren, am Ende diejenigen, die auf ihren Versand warteten. „Ich kann das Wort „Return“ in zwanzig Sprachen,“ pflegte er zu sagen und leierte sie hinunter. Dann hielt er mir die Briefe für meinen Vater hin und wandte sich dem nächsten Kunden in seinem kleinen Laden zu. Ich erkannte die Handschrift sofort. Die verschnörkelten Buchstaben, der ungebrochene Wille. Der Umschlag, dünn, unscheinbar, gestempelt. Ich musste nur zugreifen und ihn mit den Briefen, die für meinen Vater angekommen waren, mitnehmen. Es war so… leicht. Fest drückte ich die Papiere an mich und ging nach Hause. Wochen später kritzelte ich die Buchstaben Z - U - R - Ü - C - K auf den Umschlag und schob ihn zwischen die Post, die ich für meinen Vater abgeholt hatte.
Die Briefe wurden weniger und ich kritzelte immer seltener die Zeichen
Z - U - R - Ü - C - K auf einen Umschlag. Irgendwann hörte George auf Briefe zu schreiben. Endlich. Ich wuchs zu einer jungen Frau heran. Meine dunklen Haare bog ich mit einem Eisen in leichte Wellen, so wie es Mode war. Die hohen Wagenknochen, die ich als Kind so gehasst habe, meine großen Augen. Ich glaube, ich war hübsch. Und ich vergaß.
Ich vergaß, dass ich es war, die dafür sorgte, dass seine Briefe niemals verschickt wurden. Ich vergaß, dass ich es war, die ihm den Weg zurück versperrte und ihn zwang, meinem Pfad zu folgen. Bis zu jenem Tag, an dem ich seine Frau wurde. Er blickte mich an und ich sah, das Leuchten in seinen Augen. Dahinter entdeckte ich die Schatten seiner Vergangenheit und die Liebe zu einer anderen Frau.