IN EINER ANDEREN ZEIT
Georg
„Das kann es doch nicht gewesen sein?“ Wutentfesseltes Gebell schallte durch die Nacht und trieb den Gestank der Hunde vor sich her. Georg konnte schon ihren blutgenährten Atem und die zitternden Flanken riechen. Immer tiefer drückte er sich in die Unebenheiten der Felswand, verharrte in der Bewegung und atmete flach ein und aus. Über ihm erschienen Lichtkegel, die sich langsam über die Felsen und den Boden tasteten. Wenn sie ihn jetzt fanden, war alles verloren. Sein Leben, die Geheimschaft, der Plan. Für eine Sekunde schloss Georg die Augen. „Das darf es nicht gewesen sein.“ Sein Geist verband sich mit der rauen Oberfläche des Steines und er wurde eins mit dem Schiefer. In seine Gedanken bohrten sich schwarze Löcher und schalteten die Zeit aus.
„Hier ist er nicht!“, brüllte eine tiefe Männerstimme durch das Gekeife der Hunde. „Und wenn, ist er mausetot.“
„Lass uns nachsehen,“ schoben sich weitere Schritte durch das Unterholz.
„Hier ist er nicht.“
„Woher weißt Du das?“
„Weil die Hunde seine Spur verloren haben. Aber wenn Du unbedingt nachschauen willst, spring halt.“ Die Schritte hielten an und ein einzelner Lichtstrahl flammte auf. Sekundenlang suchte er die Felswand ab, traf den Boden und kehrte an die Felswand zurück.
„Komm jetzt,“ tönte der Bass erneut durch den Wald. „Wir finden diesen Verräter schon noch. Wenn nicht heute, dann morgen.“
Endlich entfernte sich das Stampfen durch das Unterholz und das Gebell wurde leiser. Millimeter für Millimeter löste sich Georg von der Felswand. Funkelnde Sterne durchbrachen die schwarzen Löcher in seinem Kopf und er erkannte Maria darin. Warum hatte er ihr erzählt, was niemand erfahren durfte? Er wusste die Antwort, hatte sie in dem Moment gewusst, in dem er Maria traf. „Konzentrier Dich, Georg,“ mahnte er sich und horchte in die Nacht hinein. Hier und da hörte er ein Tier, das durch die Büsche schlich. Mit zitternden Fingern drehte er an dem kleinen Rädchen und ließ seine Taschenlampe kurz aufflackern. Dann zog er sich an der Felswand hoch, deren Geheimnisse er in seinen Kindertagen entdeckt hatte.
„Dürfen wir behilflich sein?“ Kräftige Hände griffen nach seinen Armen und zogen Georg über die Kante der Felswand nach oben. Die Helligkeit traf ihn mit voller Wucht, explodierte in seinem Kopf und ließ ihn taumeln.
„Hier geblieben, Freundchen.“ Eine Hand schnellte vor, bohrte sich in seinen Arm und zog ihn von der Felskante weg. „Wir haben noch ein paar Fragen an Dich. Dann kannst Du springen.“
„Wer seid ihr?“
„Oho, der Mann traut sich was.“ Der Faustschlag traf Georg unvermittelt. „Wer ist der Kopf der Verschwörung.“
Das Blut schoss Georg aus der Nase und er schnappte nach Luft. „Ich weiß nichts.“
„So? Dann wolltest Du wohl heute nur mal in der Felswand übernachten, oder was?“ Der zweite Faustschlag traf Georg in den Bauch, der dritte an den Kopf. Der vierte ließ ihn stolpern und fallen. „Den Namen. Oder müssen wir ihn wirklich aus Dir heraus prügeln.“ Schon spürte Georg die Tritte, fühlte wie die Haut aufriss, und schmeckte das Blut auf seiner Zunge. „Den Namen.“
„Ich weiß nichts.“ Schmerzen durchströmten Georgs Körper und ließen ihn schlückchenweise atmen. „Ich weiß nichts.“ In seinen Ohren röchelte seine Stimme, flüsterte und verstummte. Eine Kamera zeichnete Bilder auf eine Leinwand, die nur er sehen konnte. Maria, sie lächelt ihn an. Maria, sie sieht ihn an. Maria, sie winkt ihm zu. Maria
.
Alles hatten sie auf das Spiel gesetzt, nur um ihn zu retten. Alles. Georg starrte auf die raue Schiffswand und schluckte. In jeder seiner Bewegungen grollten Fassungslosigkeit und Zorn miteinander. Drei Wochen hatte er in der Scheune gelegen, gewartet, geatmet. Er hatte sie nicht gefragt und sie hatten nichts gesagt. Wer nichts weiß, kann nichts verraten. So waren die Regeln. In seiner Selbstherrlichkeit hatte er sie alle in Gefahr gebracht. Ach, verdammt.
Und dennoch. Mitten in der Nacht hatten sie ihn geholt und in einem Lastwagen versteckt. Unter den Äpfeln. Bei jeder Biegung, jeder Kontrolle, jedem Wort hatte er sich fester gekrallt. In einen Apfel, in das raue Holz des Lastwagens. Egal. Hauptsache, sein Körper hatte aufgehört zu zittern. „Komm nicht zurück. Das ist zu gefährlich,“ hatten sie ihm am Hafen noch einmal zugeflüstert. „Nimm das Geld. Bleib wohin das Wasser Dich trägt.“ Langsam hob Georg die Hand und zeichnete ein M auf das harte Holz. Das Gemurmel der anderen Männer, mit denen er sich die Kabine teilen musste, interessierte ihn nicht. Der Plan war verloren. Maria war verloren. Er würde auf der Pritsche liegenbleiben und weiter die Wand anstarren. Acht Tage lang, dann wäre er in Kanada und dann würde ein anderes Leben beginnen.