Briefe an das Leben
Ein Schreibprojekt


IN EINER ANDEREN ZEIT

„Oh, sieh nur. Sieh.“ Zärtlich strichen ihre Finger über den Briefumschlag, glitten über die Briefmarke und berührten sacht die verschnörkelten Buchstaben „Sieh nur.“ Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und verblasste langsam.

„Maria, geht es Dir gut?“ Sarah blieb so abrupt stehen, dass der Tee gefährlich in den Tassen schwankte und sich dem goldenen Rand näherte. Schnell schob sie mit dem Tablett die Papiere auf dem alten Esstisch beiseite und betrachtete Maria, die in ihrem Sessel saß. „Maria, was ist?“ Täuschte sie sich, oder zitterten die Hände ihrer Großmutter heute stärker als sonst? Kleine Wellen schienen durch die Finger mit ihren knorpeligen Gelenken zu ziehen. „Maria?“ wiederholte Sarah und runzelte die Stirn. “Was hast Du da?“
„Sieh nur, er ist da,“ flüsterte Maria.
„Wer ist da, Maria? Wer?“
Langsam hob Maria ihren Kopf und blickte Sarah an. Tränen schimmerten in ihren Augen und doch glaubte Sarah darunter eine Glut zu entdecken. „Sieh nur, er hat mir geschrieben, so wie er es mir versprochen hat.“
„Wer hat Dir was versprochen, Maria?“
„Georg.“ Eine Träne löste sich und suchte sich ihren Weg durch die Linien, die von Marias langen Leben erzählten. „Georg. Er hat es mir versprochen. Wir haben einander versprochen.“
„Georg? Wie? Einander versprochen? Verlobt?“ Sarah trat einen Schritt vor. „Es gab einen anderen Mann in Deinem Leben? Aber was ist mit Opa? Ich dachte immer Du… ihr wart glücklich?“
„Ach, Kind. So waren die Zeiten. Wir haben nicht gefragt, ob wir glücklich sind oder werden. Wir waren glücklich, dass wir überhaupt einander trafen.“
„Aber... ich dachte immer, Du und Opa. Hast Du ihn etwa betrogen?“
„Wie kannst Du sowas auch nur denken? Nein. Aber,“ wieder stahl sich ein Lächeln auf ihren Lippen, „ich habe geliebt. Lange bevor ich Deinen Opa kennenlernte.“ Sie drückte sich tiefer in ihren Sessel und für einige Sekunden schien ihr Blick Sarah nicht mehr zu erreichen.  „Unser Tee wird kalt, Sarah. Wenn Du willst, bring den Umschlag mit, der auf dem Tisch liegt.“
„Also, ich weiß nicht, Maria. Nachher ist das ein Schwindel und es tut Dir nur weh.“ Sarah stellte das Tablett auf den kleinen Beistelltisch, packte den Umschlag mit dem Zettel und strich ihn glatt. „Woher weißt Du überhaupt, dass dieser Brief echt ist.“
„Ich weiß es, Sarah.“
„Meistens wollen die doch nur Geld,“ flüsterte Sarah, schob sich auf die Sessellehne und betrachtete die Papiere. „Ich glaube, das ist ein Brief an Dich. Soll ich ihn Dir vorlesen.“
„Das musst Du, Sarah. Er ist auf Englisch.“
„Nein, warte Maria. Das ist nur die Anrede, der Brief... ja, der Brief ist auf Deutsch.“


                                                                                         Black Creek, Canada
                                                                                         1988, 16. June

Dear Maria,

bitte entschuldige, dass ich diese vertraute Anrede nutze. Aber ich kenne Dich schon so lange und kenne Dich doch nicht. Du kannst es nicht wissen und ich habe es auch erst vor einigen Wochen erfahren. Genauer gesagt im letzten Monat. Aber verzeih, ich sollte dort beginnen, wo die Geschichte immer beginnt: am Anfang.

Im Herbst 1936 erschien George bei meinem Vater und fragte nach Arbeit. Wir ahnten damals, dass er aus Deutschland kommen musste. Er schien verletzt, an Leib und Seele und dem Tode näher als dem Leben. Das Humpeln ließ nach, der verletzte Blick besserte sich. Bis heute wissen wir nicht, wie er es an den Black Creek geschafft hat. Aber George war fleißig und mein Vater hatte ihn in sein Herz geschlossen. Er bot ihm sogar ein kleines Grundstück zur Pacht an und schon bald fing George an, ein Haus zu bauen. Jeder Menschenseele in unserem kleinen Dorf war klar, dass er es nicht für sich alleine baute. Aber es konnte ihn keine Frau für sich gewinnen. Da gab es nur diese Briefe, die er schrieb und die er zur Poststation brachte. Immer, wenn sie zurückkamen, wurde der Schmerz in seinen Augen lauter. Nach einiger Zeit wurden die Briefe seltener und irgendwann gab er sie auf.

Warum seine Wahl 1948 ausgerechnet auf mich fiel? Ich weiß es nicht. Ich war eher zurückhaltend, nicht so wie die anderen Frauen, die ihm ihren Reichtum zu Füßen legten. George war das einerlei, er suchte nicht das Geld. Und ich liebte ihn, auch wenn mir schnell klar wurde, dass es Dinge in seinem anderen Leben gab, die unsere Gemeinsamkeit zerstören könnten. Und ganz sicher gab es dort eine Frau, seine Frau. Niemals sprach er über seine Vergangenheit und ich musste nicht fragen. Ich wusste es.

Ich wusste es, als ich George das erste Mal traf.
Ich wusste es, als ich in seinen Armen lag.
Und ich wusste es, als ich sein Kind in den Händen hielt.

Versteh mich nicht falsch. Wir hatten ein gutes Leben. Wir waren glücklich. Vielleicht jeder auf seine Weise. George liebte Tom, er war ein fürsorglicher Vater. Und ganz sicher liebte er auch mich, auf seine Weise.

Im letzten Monat hat uns George verlassen. Für immer. Diesen einen letzten Brief entdeckten wir - durch Zufall oder Fügung - in einer Fensterbank. Wie oft fand ich George dort in seinem Schaukelstuhl, versunken in die Aussicht auf das Black Creek und die Straße, die sich bis zu unserem Haus mit seiner kleinen Auffahrt schlängelt. Dort saß er bis zum Schluss, bis sein Atem leiser wurde und sein Herzschlag verstummte.

Georg ist von uns gegangen und es mag Dich trösten. Er wurde geliebt.

Yours sincerly
Kate


„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Maria.“ Sarah rutschte von der Lehne auf den Boden und legte ihren Kopf auf das Bein ihrer Großmutter. „Das tut mir so leid. Ihr müsst Euch sehr geliebt haben.“
„Ja, das haben wir.“ Die Worte lagen auf Marias Lippen und rangen mit ihr um die Fassung. Noch immer hielt sie seinen Brief in ihren müden Händen. Die Schnörkel verschwammen vor ihren Augen, verbanden sich neu und verschlangen sich zu Bildern aus einer anderen Zeit. Georg und sie am Flussufer, Georg und sie in dem kleinen Wirtsgarten, Georg und sie Hand in Hand. Die leisen Worte. Das Grollen der Gefahr. Der bittere Geruch der Angst. Der letzte Abend. Der letzte Kuss. Das letzte Versprechen.

„Wirst Du seinen Brief lesen?“ Sarah blickte in das Gesicht ihrer Großmutter und suchte nach einer Antwort. Langsam ließ sie den Kopf wieder auf das Bein ihrer Oma sinken. „Du hast recht. Er wurde geliebt.“