Briefe an das Leben
Ein Schreibprojekt


Goldmond.


Prolog

Der goldene Gott des Mondes hob seine Hände und legte sie über das Erdenrund. Sein Blick glitt über die Berge und Täler, die Meere und Seen, die Wiesen und Felder. Wie jede Nacht suchte er die Menschen und fand sie schlafend. Sie schliefen mit Laub bedeckt in Erdlöchern. Sie schliefen in ihren Höhlen und sie schliefen in ihren seltsam runden Häusern. Dort lagen sie auf Matten, hatten einfache Leinentücher über sich gezogen und träumten. Nur ein Dieb schlich in der Nähe eines Dorfes durch die Nacht. Sein Hemd war starr vor Schmutz. Ständig schaute er sich um. Drei Männer folgten ihm. Gleich würden sie ihn erreichen und dann…

Der Gott des Mondes seufzte und eine Träne floss über seine goldene Wange. Für einen Moment betrachtete er sein glänzendes Gesicht im Spiegelbild eines Sees. Der Duft von Tannen stieg ihm in die Nase und er ließ sich gerne davon betören. Dann kehrte sein Blick zurück. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Unterhalb der Bergkuppe, auf der einst der Alte König hauste, lief eine junge Frau und sammelte Kräuter. Der Gott des Mondes lächelte und ließ goldgelbe Strahlen über die Hänge fließen, damit die heilenden Blätter im Licht strahlten.

Auf der Kuppe des Berges entdeckte er einen Mann. Er stand mit hocherhobenem Haupt auf einem Stein, breitete die Arme aus und drehte sich nach Norden, Osten, Süden und Westen. Der Gott des Mondes schüttelte den Kopf und goldene Funken stoben unter dem Dach des Himmelszeltes auf. Warum glaubten die Menschen, dass sie den vier Winden huldigten mussten? Diese unsteten Kerle taten am Ende ja doch was sie wollten. Sie waren fast so unberechenbar wie diese Frau, die eben noch Kräuter gesammelt hatte und jetzt den Mann aus einiger Entfernung beobachtete.

Der Gott des Mondes zuckte mit den Schultern, legte seine goldene Stirn in Falten und fragte sich, was der Mann, der dort so stolz auf dem Stein stand, wohl gesagt hatte?

Gegenüber erwachte die unsterbliche Herrscherin der Sonne und reckte sich dem Tag entgegen. Heute würde er länger bleiben. Blass und durchscheinend würde er noch Stunden am Himmel verweilen und die Menschen beobachten. Und genau so lange würde der goldene Gott des Mondes die Erde in seinen funkelnden Händen halten.