Briefe an das Leben
Ein Schreibprojekt


2.

Juna blickte in ihren Weidenkorb und lächelte. Ihre Finger berührten sanft die Kräuter und Blätter, die sie gesammelt hatte. „Das reicht für einige Mixturen und Salben,“ flüsterte sie und ging weiter den Hang hinauf.

Heute Nacht war der Mondgott gnädig. Seine goldenen Strahlen flossen von der Bergkuppe hinab und beleuchteten die Wiesen wie eine Laterne. Schon von weitem konnte Juna das heilende Kraut sehen. Ackerschachtelhalm, Andorn und Arnika lagen in dem Weidenkorb. Juna blieb stehen, schnitt den Besenginster ab und legte ihn vorsichtig zu den anderen Kräutern in den Korb. Sie fröstelte. Oder konnte sie einfach nur das Unheil spüren? Es zog wie eine Horde Ameisen über ihre Wirbelsäule den Rücken hinauf und setzte sich in ihrem Nacken fest. Sie hob ihren Kopf und betrachtete die hell erleuchtete Scheibe am Himmel. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Der Mond trug einen hellen Kranz, der von Minute zu Minute größer wurde und ihr sagte, dass Gefahr drohte.

„Engelskraut,“ flüsterte sie vor sich hin. „Ich brauche noch Engelkraut, damit die Wunden besser heilen.“ Und Juna war sich sicher, dass sie in den nächsten Wochen viele Wunden heilen musste. Sie schluckte und schlenderte weiter über die Wiesen, den Berg hinauf zu der ersten Mauer aus Steinen, die sich aus dem Nichts vor ihr erhob. Dann wandte sie sich nach rechts und ging immer weiter an der Mauer entlang bis zum Ende des Steinwalls. Dahinter, zwischen zwei überlappenden Mauerenden, erkannte Juna eines der beiden Tore.
„Ich hoffe, Du lässt niemanden hindurch, wir brauchen Deinen Schutz,“ sagte sie und berührte  das Tor… sie stutzte. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Aber doch, das Tor war offen. Juna schlüpfte hindurch, blieb stehen und lauschte in die Nacht. Nichts. Nur ihr eigener Atem rauschte in ihren Ohren.
Hinter der Mauer fühlte Juna sich sicher und doch so klein wie eine Maus. Die Steine türmten sich neben ihr auf und überragten sie, waren mindestens doppelt so hoch wie sie. Dabei gehörte sie zu den Frauen, die größer waren als so mancher Mann. In ihrer Kindheit hatten die anderen im Dorf sie deswegen aufgezogen. Hatten ihr böse Worte hinterher gerufen und hatten sie so oft es ging geschnitten. Vielleicht war das der Grund, warum sie Heilerin wie ihre Mutter geworden war, überlegte Juna. Jetzt mussten die Menschen zu ihr kommen und ihr vertrauen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie mal wieder Zahnschmerzen, Koliken oder noch schlimmer mit einer Verwundung aus einem Kampf heimkamen. Meistens konnte sie helfen. Doch die wenigsten der Männer waren reinlich, achteten nicht auf ihre Wunden und kamen mit dreckstarren Tüchern zu ihr. Dann konnte sie nicht mehr helfen. Das waren die gefährlichen Momente, die Momente, in denen sie kaum mehr helfen konnte und in denen sie die bösen Worte wieder hörte. Hexe… Hexe… Hexe… hämmerte es in ihrem Kopf.

Als sie endlich die Bergkuppe betrat, ahnte Juna schon, wen sie dort, in der Mitte der Burg treffen würde. Sie sah ihn schon von der Ferne auf dem Felsen stehen, auf dem höchsten Punkt des Berges. Sein muskulöser Körper zeichnete sich scharf vor dem Mond ab. Die Münzen auf seiner schwarzen Tunika blitzen auf und Juna glaubte sogar, ihr leises Klimpern zu hören. Sie starrte auf seinen Rücken, sein dunkles Haar und doch hätte sie seine Gesichtszüge malen können. Die schwarzen Augen, die gerade Nase, den vollen Mund.

„Stean. Wusste ich es doch,“ dachte Juna. „Wer sonst würde es wagen, in der Nacht des Goldmondes auf den Berg zu gehen?“ Ihre Hände hielten sich am Weidenkorb fest, sie atmete schwer.

„Besser, wenn er mich hier nicht sieht“, schoss es ihr den Kopf. Schnell blickte sie sich um und huschte zwischen die Schatten von ein paar Bäumen, die auf der Bergkuppe allen vier Winden trotzten. Von hier aus konnte sie alles sehen: Den großen Platz, die Hütten rechts und links und Stean, der auf dem Felsen stand und gerade seine Arme ausbreitete und in die Nacht rief:

„Volk der Kelten. Erhebe Dich. Kämpfe. Es ist Dein Land.
Volk der Kelten, Deine Seele ist unsterblich.“

Juna drückte sich hinter einen Baum und machte sich so klein sie konnte. Sie kannte das Ritual der Väter und Ur-Väter und sie kannte Stean. Sie wusste, dass er eine Gefahr schon auf eintausend Meter riechen konnte, eine Veränderung um ihn herum nahm er schneller wahr, als ein Feind sein Messer ziehen konnte. Wenn Stean sie hier fand, würde er gleich morgen versuchen, sie an einen anderen Stamm zu verschachern. Ihre Augen blitzten angriffslustig auf. Sollte er es nur wagen! Dachte er etwa, er sei trotz seiner jungen Jahre der Alte König, der hier oben gehaust haben soll? Oder glaubte er etwa, er sei Gott, weil er auf die Idee gekommen war, nicht nur einen, sondern gleich zwei Steinwälle zu errichten. Es war eine gute Idee, es war eine wahnwitzige Idee. Die Männer waren durch die harte Arbeit abgekämpft, noch bevor sie den ersten Kampf gekämpft hatten. Das Volk der Kelten war stark, es glaubte an seine unsterbliche Stelle, es war hart und unerbittlich. Und das römische Heer hatte Angst vor ihnen. Aber sie waren nicht unbesiegbar.

Hier oben auf der Bergkuppe konnten sie nicht bleiben, vielleicht wenn es warm war, wenn die Sonne zumindest die Tage wärmte. Wenn aber die Stürme über das Land tobten und der Schnee fiel, würden sie es nicht aushalten können. Sie brauchten keine Burg auf irgendeiner Bergkuppe. Das, was sie brauchten, war ein Wunder.
Juna blickte zwischen den Bäumen hervor und betrachtete Stean, der jetzt wieder mit dem Rücken zu ihr stand. Wenn sie unentdeckt bleiben wollte, musste sie gehen. Sie raffte ihr Kleid zusammen, atmete tief ein und lief über den kleinen Pfad zurück zum inneren Steinwall, eilte durch das Tor und verschloss es so, wie sie es vorgefunden hatte. Weiter folgte sie dem Weg hinab zum unteren Steinwall. Da sah sie es am Wegesrand. Engelskraut.
„Oh, nein,“ dachte Juna und kniete sich hin. „Warum jetzt und warum hier?“ Schnell grub sie das Engelskraut aus und drückte es in ihren Korb. „Jetzt aber schnell,“ flüsterte sie sich selbst zu. Irgendetwas fiel, klang leise an ihr Ohr, aber Juna war schon weiter geeilt. Noch einmal drehte sie sich um und schloss das Tor des Steinwalls hinter sich.

Juna blinzelte zur Himmelscheibe und dankte dem Mondgott für seine Güte. Gleich würde der Tag erwachen und ihr glutrot entgegenleuchten. Sie hatte keine Angst, vor nichts und niemanden.