Briefe an das Leben
Ein Schreibprojekt


1.

Er war der Herr der vier Winde, er war der Vater des Wunders, er war Gott. Stean stand auf dem Felsen in der Mitte der mächtigen Bergkuppe und spürte der Kälte nach, die durch seine nackten Füße in seinen Körper kroch. Kiesel drückten sich in seine Haut. Sie waren wie feine Nadelstiche, die ihn daran erinnerten, was er getan hatte. Die Stille legte sich wie eine schwere Decke auf den Berg und hüllte Stean ein. Alles um ihn herum verschwamm, wurde zu einem Gewirr aus Bäumen, Wiesen und Wegen, einem Nichts aus Grün, Grau, Braun und dunklen Schatten. Und Steinen. Groß, kantig, blockig, stur. In dieser mondhellen Nacht gab es nur ihn und den Stein, auf dem er stand. Der Fels und er waren eins. Stean breitete seine Arme aus und atmete die kühle Nachtluft ein. Der Wind wehte und trug ein leises Rascheln zu ihm herüber. Die goldenen Münzen auf seinem Hemd klimperten leise. Seine dunkle Stimme glitt durch die Nacht und floss über die Kuppe des Berges in das Tal.

„Volk der Kelten. Erhebe Dich. Kämpfe. Es ist Dein Land.
Volk der Kelten, Deine Seele ist unsterblich.“

Wie von selbst drehte Stean sich zur Seite und sprach sein erstes Gebet. Er kannte das Ritual seiner Väter und Ur-Väter. Die Worte kamen tief aus seinem Innern und verhallten in der Nacht. Ein letztes Mal wandte er sich um, dann schaute er wieder den Mond an. Die Scheibe am Himmel schien ihm heute größer als sonst. Fast war es ihm, als müsse er die Hand nur ein bisschen weiter ausstrecken und schon könne er das Gesicht des Mondgottes berühren.

„Volk der Kelten. Erhebe Dich. Hier findest Du Schutz,“
rief Stean und fügte leise hinzu:
„Dafür habe ich gesorgt.“

Mit jedem Einzelnen seines Stammes hatte er gerungen. Nicht mit bloßen Händen. Nein, er hatte ein anderes, ein besseres Werkzeug. Hier ein unvollendeter Satz, dort eine kleine Andeutung. Ein Wort oder ein Fragezeichen, das er niemals erwähnt hatte, aber das jeder spürte. Von dem jeder glaubte, Stean hätte es gesagt. Ein Zeichen, das die Männer atemlos werden ließ und die Frauen in die Verzweiflung trieb. Die Kinder versteckten sich hinter den Röcken ihrer Mütter und schauten ihm mit angstgeweiteten Augen nach. Stean hatte die Blicke auf seinem Rücken gespürt. Trümmer aus Felsen und Steinen, die jeden seiner Schritte schwerer machten. Aber sein Stamm war ihm gefolgt, hatte das getan, was er gesagt hatte. Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche hatten die Männer Pfosten in die harte Erde gerammt. Dann hatten sie die Steine auf den Berg gezogen, geschoben und gedrückt, hatten die Brocken ineinandergelegt, aufeinander gestapelt und schließlich aufgetürmt. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang war Stean den Plan mit ihnen durchgegangen, hatte ihnen gezeigt, worauf sie achten mussten. Wieder und wieder hatte er ihnen gesagt, was sie tun mussten. Jetzt endlich umringten zwei mächtige Steinwälle den Berg. Zu hoch, um darauf zu springen. Zu breit, um sich darüber zu schwingen. Und es gab nur zwei Tore, die durch die überlappenden Mauerenden kaum zu sehen waren.

„Uneinnehmbar“, dachte Stean wieder.

Sie hatten es geschafft, er hatte es geschafft. Das Wunder war vollbracht. Die Ringwälle waren fertig und standen fest und starr. Die Burg war errichtet. Dabei war es Zufall gewesen. Ein Lächeln schob sich auf Steans Lippen. Ein Weg, den er nicht kannte, ein unbedachter Schritt zur Seite, ein Stolpern. Noch bevor er die Quelle sah, hatte er den feinen Geruch des Wassers wahrgenommen. In seinem Kopf war ein Bild entstanden, ein Bild von einer Burg inmitten von steinernen Wällen.

„Mochten sie doch kommen, die Römer.
Mochten sie doch ihre Soldaten in den albernen Blechuniformen schicken.
Sollten sie doch versuchen, das Volk der Kelten zu vertreiben.“

Stean ballte seine rechte Hand zur Faust und hob sie wieder und wieder dem Mond entgegen.

„Hier sind wir sicher,“ flüsterte er dem Stein zu.
„Hier sind wir sicher,“ rief er in die taghelle Nacht.
„Hier sind wir sicher,“ brüllte er das goldene Gesicht des Mondgottes an.

Die Steine würden sich lockern und sich bewegen, sie würden hinabfallen und den Berg hinunter rollen. Nicht in einem Jahrhundert, nicht in drei Jahrhunderten, vielleicht aber in zehn Jahrhunderten. Sie würden sich der Zeit ergeben. Die mächtigen Ringwälle würden sich der Erde neigen. Das römische Reich wäre vergangen. Sein Volk der Kelten aber wäre noch auf diesem Berg. Ein jeder Stein würde an sie erinnern, an ihre Kraft, an ihren Mut, an ihren Willen. An ihre unsterbliche Seele.

Das Blau der Nacht verformte sich und zerbrach. In ihrem glutroten Kleid begann die Sonne ihre Reise über den Himmel. Stean breitete seine Arme aus und blickte den Mond an. Seine Füße waren kalt, seine Muskeln zuckten, sein Herz schlug im Takt. Hier auf der Kuppe des Berges, hier inmitten seiner Burg war er der Alte König.

Er war Gott.

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