Fast perfekt
„Wer war das?“
Petrus starrte aus dem Fenster seiner Wolkenlounge auf die Erde und runzelte die Stirn. Auf den Bergen und Hängen türmte sich der Schnee, bedeckte Häuser und Straßen und lastete schwer auf den Bäumen.
„Also…“ fiepte das Christkind, das durch die mitteleuropäische Wolkenpforte hereingeschlichen war. Um es herum stoben ständig Wölkchen auf und flirrten durch die Luft, weil es einfach nicht stillstehen konnte. „Also, das war so…“ Das Christkind griff nach seinem weißen Kleidchen und betrachtete die Stickerei. Auf seiner Stirn glänzte weißer Puder. Die blonden Locken ringelten sich in alle Himmelsrichtungen und wippten bei jeder noch so kleinen Bewegung auf und ab.
„Ja?“ Petrus drehte sich herum und betrachtete das Christkind.
„Also, Du weißt ja, dass ich abends immer backe. Ganz besonders gerne im Herbst und Winter. Wenn es schon so früh dunkel…“
„Das weiß ich,“ wiegelte Petrus ab.
„Ja, also, wenn es so früh dunkel wird und ich backe, dann färbt sich doch der Himmel so schön rot und die Menschen freuen sich…“
„Was willst Du mir eigentlich sagen?“ Petrus stemmte die Arme in die Hüfte. Dabei raschelte sein weißes Leinenhemd, das er auf traditionelle Art bodenlang und schmucklos trug, leise.
„Im Herbst und Winter muss ich ganz viel backen, damit ich den Menschen leckere Plätzchen…“ plapperte das Christkind weiter. Eine leichte Röte zog über seine Wangen und ließ die blauen Augen leuchten.
Petrus zog die rechte Augenbraue nach oben, schlug die Arme vor der Brust zusammen und seufzte.
„Und ich muss ja ganz viele Sorten backen. Butterplätzchen, Pfeffernüsse, Engelsaugen oder Zimtsterne. Und dann gibt es auch noch die neuen Sorten wie die Red-Velvet-Whoopies mit Frosting, Chai-Latte-Plätzchen mit Schneeflöckchen oder die knusprigen White-Chocolate-Zitronen-Ingwer Cookies mit Mandeln. Und natürlich die veganen Sorten, die Weihnachtsmann-Lollie-Pops backe ich besonders gerne. Garantiert ohne Milch. Aber, ich glaube, Nikolaus mag sie gar nicht…
Petrus verdrehte die Augen und räusperte sich.
„Ach, ja. Für das Backen brauche ich jede Menge Zutaten. Petrus, das weißt Du doch.“ Die Augen des Christkindes wurden immer größer. „Wirklich jede Menge. Orangeat und Zitronat, Zimt und Zucker, Nüsse und Mandeln, Vanille und Kardamom…“
„Christkind.“
„Ach, ja.“ Das Christkind ließ die Arme baumeln und drehte seinen Oberkörper hin und her. „Und dann brauche ich natürlich noch Mehl. Nicht so ein bisschen, Petrus, sondern ganz viel. Einen riesigen Berg Mehl. So groß.“ Das Christkind riss seine Hände nach oben und stellte sich auf die Zehenspitzen, so dass die Wölkchen um es herum nur so flogen und es auch ein bisschen vom Boden abhob. „Und da dachte ich…“
„Da dachtest Du… “ Petrus löste sein Arme und schob seinen Kopf nach vorne.
Mit einem „Plumps“ landete das Christkind wieder auf seinen Füßen und ließ die Schultern hängen. Vorsichtig blickte es zu Petrus auf und ließ seine Augen in einem hellen Blau strahlen.
„Da dachte ich…“
„Da dachtest Du was?“
„Da dachte ich, es wäre doch gut, wenn ich das Mehl in einen Bollerwagen füllen würde, dann könnte ich ganz viele Plätzchen backen und müsste nicht so oft in die himmlische Mehlkammer. Du weißt doch, Petrus, da muss ich immer alles erklären. Ständig fragen sie mich: „Warum brauchst Du jetzt schon wieder Mehl? Hast Du nicht gestern erst gebacken? Was soll diese ganze Backerei überhaupt?“ Und den Bollerwagen könnte ich ja immer hinter mir herziehen, wenn ich von Herd zu Herd gehe. Das ist alles viel einfacher.“
„Was um Himmels willen ist dabei schiefgegangen.“ Petrus trat einen Schritt auf das Christkind zu, seine Augen verfärbten sich dunkelschwarz. „Hast Du denn das Chaos da unten nicht gesehen. Es schneit seit Stunden unaufhörlich. Ich habe das nicht in Auftrag gegeben.“
„Ja, na ja. Es ging doch um die Plätzchen und das viele Mehl… “
„Christkind“ polterte Petrus und fuchtelte so wild mit seinen Armen, dass immer mehr kleine Wölkchen umherschwirrten. „Himmel, Herrgott, was ist passiert.“
„Ja, na ja. Zuerst habe ich nur ein bisschen Mehl verschüttet. Es war nicht viel und es ist auch kaum aufgefallen. Ich dachte wirklich der Bollerwagen ist größer…“
„Und dann…“ Petrus atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder entweichen.
„Ja und dann, dann, ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Aber, der Wagen war so schwer und irgendwie konnte ich ihn auch nicht richtig ziehen. Und dann, dann war die Wolke. Du weißt doch, die Wolke, an der ich immer hängen bleibe und der Wagen… also, der Wagen ist einfach umgekippt…“
Petrus schluckte und starrte das Christkind an. „Der Wagen ist umgekippt?“
„Der Wagen ist umgekippt und das ganze Mehl…“
„Der Wagen ist umgekippt und das ganze Mehl…“ wiederholte Petrus tonlos.
„Das ganze Mehl ist auf den Boden und durch die Lüftung runter gefallen auf die Erde.“
„Allmächtiger, das kann doch nicht wahr sein,“ Petrus schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Konntest Du es denn nicht wieder zurück in den Bollerwagen schaffen. Jetzt sieh Dir doch diese Bescherung an.“ Sein Blick flog zum großen Fenster der Wolkenlounge und auf das Chaos, das auf der Erde herrschte. Gerade schoben sich wieder zwei Autos ineinander und Petrus konnte schnell noch dafür sorgen, dass nur Blech auf Blech schlug und nichts Schlimmeres passierte.
Das Christkind tanzte mittlerweile auf seinen Füßchen, immer wieder lösten sich Wölkchen vom Boden und wuselten um es herum. „Ja, na ja. Ich dachte, es ist besser, wenn ich es wegkehre. Man soll doch nichts essen, was auf dem Boden gelegen hat.“
„Und dann hast Du den Rest des Mehls auch noch durch die Lüftung gekehrt.“
„Ja,“ fiepte das Christkind wieder. „Ich konnte doch wirklich nicht ahnen…“ Seine Wangen glänzten jetzt dunkelrot.
Petrus ging zu seinem Stuhl und hielt sich fest. Seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Watte. Wieder betrachtete er das Chaos, das auf der Erde herrschte. Es fielen immer mehr dicke Schneeflocken, drei Stunden hatten gereicht, um ganz Deutschland unter einer weißen Decke verschwinden zu lassen. Die orangefarbenen Punkte, die so fröhlich vor sich hinblinkten, rührten sich nicht mehr vom Fleck. Petrus konnte es nicht fassen, jetzt waren auch noch die Schneefahrzeuge stecken geblieben.
„Ich mache das nie, nie mehr wieder, Petrus. Versprochen.“ Während das Christkind weiter erzählte, versuchte Petrus seine Fassung wieder zu gewinnen. Er setzte sich auf seinen Stuhl und räusperte sich, einmal, zweimal, dreimal. „Wie lange wird das noch so weiter gehen, Christkind?“
Plötzlich war es ruhig in der Wolkenlounge, sehr ruhig. Selbst die Wölkchen, die durch die Luft schwirrten, wagten nicht sich weiter zu bewegen. Das Gesicht des Christkindes wurde rosa, dann blass und schließlich kalkweiß. Petrus blickte das Christkind an. „Wie lange?“
„Es könnte vielleicht, möglicherweise, unter Umständen etwas länger dauern.“ Das Christkind riss seine Augen weit auf und blickte Petrus an. „Wirklich, Petrus. Ich kann nichts dafür. Wenn ich das geahnt hätte, dann hätte ich doch niemals den Knopf berührt, ich wäre noch nicht einmal in die Nähe von ihn gekommen.“
„Knopf? Welcher Knopf.“
„Na den Turbo-Sause-Wolkenwind-frische-Knopf.“
Die Gesichtszüge von Petrus froren ein. Sein Unterkiefer klappte von Zeit zu Zeit nach unten ohne ein Wort zu formulieren. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er wieder etwas sagte. Seine Stimme war nur noch ein Krächzen.
„Du, Du hast was…“
Das Christkind ging einen kleinen Schritt zurück. „Den Turbo-Sause-Wolkenwind-frische-Knopf.“
Petrus stöhnte. Seine Finger umklammerten die Sessellehnen, als befürchtete er, er müsse direkt in die Hölle fahren.
„Aber, aber ich konnte doch wirklich nicht ahnen …,“ stotterte das Christkind, „dass das Programm so gründlich arbeitet. Selbst die IT war überrascht, dass das System funktioniert. Es ist perfekt. Sie waren ganz aufgeregt und haben sich sogar abgeklatscht. Na ja, jedenfalls ist durch den Turbo-Sause-Wolkenwind-frische-Knopf das ganze Mehl, das ja auf dem Boden lag, erst aufgewirbelt worden. Meine ganze Backstube war voll weißem Nebel und ich selbst, ich habe auch gar nichts mehr gesehen. Überall war das Mehl.“ Das Christkind schüttelte sich bei der Erinnerung und tatsächlich löste sich feiner Mehlstaub vom Kleidchen und hüllte es einen Moment ein. Es nieste. „Ja, und dann kamen die Wolkenwinde und haben das ganze Mehl durch die Lüftung gesogen. Ich musste mich sogar an meinem Herd festhalten, sonst wäre ich vielleicht auch noch durch die Lüftung… und das wäre ja was gewesen, wenn ich so einfach auf die Erde gepurzelt wäre. Ganz ohne Geschenke. Findest Du nicht auch?“
Petrus starrte das Christkind an und sagte kein Wort.
„Es funktioniert wirklich alles perfekt, also fast alles,“ murmelte das Christkind, und trat noch einen Schritt zurück. Seine Wagen glänzten wieder rosegolden. „Also, bis auf die Zuluft, die das ganze Mehl wieder anzieht und dann wieder durch die Lüftung…“
Petrus saß vornübergebeugt auf seinem Sessel, als sei er eingefroren. Seine rechte Hand bedeckte seine Augen. Er flüsterte vor sich hin und schüttelte ab und zu seinen Kopf.
„Du, Petrus.“ Die Wangen des Christkindes leuchteten jetzt hellrot und es tanzte wieder auf seinen Füßchen. „Meinst Du, Du kannst mit den Kollegen von der himmlischen Mehlkammer mal reden. Ich würde so gerne noch Plätzchen backen.“
Zur Hörfassung geht es hier: