Die Betty Balu
Die Geschichte der Betty Balu ist inspiert von dem nachfolgenden Anfang einer Erzähung, die James Krüss geschrieben hat. Daraus ist eine neue, meine Geschichten entstanden. Hier aber erst mal der Anfang:
„Unterhalb der großen Elbchaussee, die von Hamburg aus am rechten Ufer der Elbe meerwärts entlangläuft, liegt ein kleiner Ort, in dem sich alte Kapitäne zur Ruhe gesetzt haben. Er heißt Övelgönne. In diesem kleinen Ort wohnte ich einmal vierzehn Tage lang, um die Bibliothek eines Kapitäns zu durchstöbern, der Bücher und Nachrichten über die sagenhaften Glücklichen Inseln hinter dem Winde gesammelt hatte. Durch eine Reihe anderer Kapitäne – einer war von Korfu, einer von der Insel Kreta und einer von Venedig – war ich auf diesen Kapitän gestoßen. Ich wohnte damals bei der Witwe Köhn, die sich fast jeden Tag danach erkundigte, was ich Neues über die Glücklichen Inseln herausgefunden hatte. Die Witwe Köhn sagte eines Sonntags, als sie mir das Frühstück brachte: „Sie sind doch an Geschichten interessiert, nicht?“
„Ja“, antwortete ich. „Geschichten sind meine Spezialität. Haben Sie eine für mich?“
„Ich nicht“, sagte die Witwe Köhn. „Aber der Segelmacher Sievers vier Häuser weiter ist ein fabelhafter Geschichtenerzähler. Den Sollten Sie einmal besuchen.“ Das Haus, in dem dieser Segelmacher wohnte, kannte ich. Über der Tür war ein Hausschild angebracht, auf dem zu lesen stand:
HAUKE SIEVERS
SEGELMACHEREI
Jedes Mal, wenn ich dieses Schild sah, klingelte eine Glocke in meinem Gedächtnis und zeigte an, dass ich den Namen irgendwann in meinem Leben schon einmal gehört haben musste. Aber wo und unter welchen Umständen ich ihn gehört hatte, das wollte mir einfach nicht einfallen. Nun jedenfalls war ich froh, dass die Witwe Köhn mir eine Gelegenheit bot, diesen Hauke Sievers einmal zu besuchen.
Und hier beginnt nun meine Geschichte:
Als ich am frühen Montagmittag bei ihm läutete, erwartete ich nicht, dass mir jemand öffnete. Er wird wohl gerade ein Segel machen, dachte ich mir und fing an zu grinsen. Was man halt so macht als Segelmacher in einer Segelmacherei. Ich betrachtete die schwere Holztür mit dem kleinen Fenster, an dem eine fein gehäkelte Spitzengardine hing. Gleich rechts neben der Tür hatte Hauke Sievers eine Holzbank aufgestellt. Das wäre schon der richtige Platz für mich, dachte ich mir. Vielleicht würde ich mir sogar ein Pfeifchen anstecken?
„Was willst Du“! Der kräftige Bariton, der an mein Ohr schallte, ließ mich zusammenzucken. Mit eingezogenem Kopf blickte ich auf den Mann, der sich da vor mir aufgebaut hatte. Kerzengerade stand er im Türrahmen. Das weiße, frisch gestärkte Hemd zog nicht eine Falte. Auf dem schlohweißen Haar saß eine dunkelblaue Kapitänsmütze, gerade so als wäre sie schon immer da gewesen. Das musste Hauke Sievers sein. Die klaren, blauen Augen erinnerten mich an jemanden, den ich vor langer Zeit getroffen hatte. Ein leiser Gedanke wand sich durch meinen Kopf.
„Ich… ich… guten Tag, Herr Sievers! Also, ich wollte fragen…“, stammelte ich. Hauke Sievers Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt, aus denen er mich genau beobachtete.
„Du brauchst gar nicht zu fragen. Ich habe schon der Köhn gesagt, dass ich Dir keine Geschichten erzähle“.
„Aber, aber die Glücklichen Inseln hinter den Winden, nur Sie kennen sie doch… die wahre Geschichte“, versuchte ich es. Hauke Sievers spie mir ein verächtliches „Pah“ vor die Füße und warf mit kräftigem Schwung die Tür so fest zu, dass die putzige Gardine an dem kleinen Fenster zitterte.
„Was? Sie haben sich von dem alten Sievers einschüchtern lassen?“ Witwe Köhn riss mit einem schiefen Grinsen die Arme in die Luft und brachte damit den Kronleuchter mit seinen 32 Armen auf denen dicke Kerzen thronten, zum Schwingen. Der Gesellschaftsraum, in den ich mich geflüchtet hatte, um meine nachmittägliche Tasse Tee zu trinken, schien kleiner zu werden. „Das macht der Alte immer und dann erzählt er doch seine Geschichten.“
"Nein, nein, nein und nochmals nein, Ich gehe ganz bestimmt nicht mehr zu diesem knurrenden, bärbeißigen, alten Seebären," protestierte ich. Witwe Köhn zuckte die Schultern und eilte davon.
„Dann bleibt die Geschichte von den Glücklichen Inseln halt dort wo sie ist, hinter den Winden.“ Über mir schwang der Kronleuchter hin und her und nahm meine Gedanken für eine Weile mit. Der Tee war kalt geworden.
Ich spürte den Glockenschlag noch ehe ich ihn hörte. Als die Glocken wild ineinander schlugen, lag der Morgen neblig über dem Dorf. Schnell zog ich mir Hemd und Hose über und eilte aus der Pension in Richtung der Segelmacherei. Hauke Sievers stand bereits vor dem Haus. Auch heute saß sein blütenweises Hemd wie angegossen.
„So, so, sie ist also wiedergekehrt, die alte Betty. Schau genau hin, und sage mir, was Du siehst“. Er nickte mir zu und verschwand in seinem Haus. Ich konnte kaum glauben, dass Hauke Sievers mich angesprochen hatte. Schnell lief ich weiter in Richtung Hafen und zur Mole. Dort standen einige Övelgönner und schauten stumm auf ein Stück Holz. Ich brauchte einen Moment, bis ich erkannte, dass es kein einfaches Treibgut war. Zuerst sah ich die Mähne, wie sie in kunstvoll geschnitzten Locken über der Seite lagen, gerade so als würde ein kräftiger Wind durch sie hindurchfahren. Das Maul weit aufgerissen, blickte der Löwe stur gerade aus. Es musste ein mächtiges Schiff gewesen sein, mit dem er als Galionsfigur auf Reisen gegangen war. Mit einem kräftigen Ruck zogen Knut Paulson und Olaf Finnson den Löwen an Land.
„Das muss der Löwe der Betty Balu sein“, knurrte Knut Paulson. „Das alte Mädchen soll bei den sieben Inseln verschwunden sein.“
Und da sah ich es: Der Löwe trug keine Mähne, deren schwere Locken im Sturm flatterten. Es waren Buchstaben, die ineinander verschlungen, miteinander verknüpft und in sich verwoben waren. Was für eine Haarpracht, was für ein Löwe! Das musste Hauke Sievers gemeint haben.
Als ich zurück zur Segelmacherei kam, saß Hauke Sievers auf seiner Bank und rauchte ein Pfeifchen.
„So, so, sie ist also zurückgekehrt, die Betty Balu“, brummte er. „Du musst wissen, sie war weit und man erzählt sich, dass sie verschwunden ist bei den sieben Inseln.“
„Ja, ja“, warf ich dazwischen. „Sie soll gesunken sein. Das hat Knut Paulson schon erzählt.“ Hauke Sievers runzelte die Stirn und blickte mich an.
„Willst Du jetzt die Geschichte hören, Lütter? Oder mir erzählen, was Knut Paulson meint erzählen zu müssen?“ Ich holte tief Luft und schwieg. Hauke Sievers brummte zufrieden, zog an seiner Pfeife und begann zu erzählen.
Die Betty Balu war ein stolzes Schiff. Wenn sie am Horizont erschien, die weißen Segel im Wind gebläht, erwachte das Meer und weckte das Land auf. Eine unsichtbare Welle schwappte über den Kai, klopfte leise an Fenster, öffnete Türen und trug die Bewohner des kleinen Dorfes zum Hafen. Das metallische Rasseln der Ankerkette und das Platschen, das dem Aufprall des Ankers auf den Wellen folgte, vermischte sich mit dem Geschrei der Möwen. Die Glocken des alten Kirchturms schlugen dreimal und wehten die dumpfen Töne durch die schmalen Gassen. Die Betty Balu war zu Hause und brachte den betörenden Duft exotischer Länder und ein Hauch von wundersamen Geschichten mit sich. Darunter lag der verräterische Gestank von Unheil und Gefahr.
An der Reling stand Ole Trondson und blickte auf das Geschehen am Hafen. Der Kapitän, von dem man sich in den Kneipen am Hafen erzählte, er sei mit allen Wassern der sieben Weltenmeere gewaschen, reiste rastlos durch die Wellen. In den dunkelsten Ecken der schmierigsten Spelunken drückten Worte wie Macht, Gier, Liebe und Verrat einen gluthellen Stempel auf seine tadellos sitzende Uniform. Er würde auch diesmal nicht lange bleiben. Einige Tage später schon wurde Ole Trondson gesehen, wie er mit neuen Seekarten durch die engen Gassen des Dorfes ging. Kalte Angst folgte ihm, waberte über das Pflaster und blieb vor den Türen der vom rauen Wind des Meeres gebeugten Häuschen liegen. Ein Flüstern zischte durch das Dorf: „Die Betty Balu … die Sieben Inseln … keiner, der je zurück … !“
Ole Trondson war entschlossen. Wie so oft stand er auf der Brücke und beobachte die Matrosen, die er angeheuert hatte. Keiner von ihnen hatte gefragt, wohin sie diesmal segeln würden, doch er hatte es Olov Tandborg, Mads Huutenkamp und Alvar Dinkbor angesehen. Ihre Augen hatten sich leicht geweitet und etwas Unbestimmtes war darin aufgeflackert. Immer wieder spürte er ihre Blicke, in denen mehr als eine Frage stand. Andres Zackenhut, Blar Schnackson, Bent Brodloss und Aris Trodelmann waren ihm mit einem leichten Nicken gefolgt. Nur der alte Seebär Rupert Rumpenzahn, der einen aufziehenden Sturm in seinem hohlen Backenzahn spüren konnte, hatte gemurmelt „das hatte ja irgendwann soweit kommen müssen.“
Die Sonne schob sich gemächlich über die Hügel hinter dem Dorf hervor und setzte behände zum Himmelsflug an als Ole Trondson den Befehl zum Aufbruch gab. Der Wind wehte wohlig, die Segel blähten sich auf und die Betty Balu löste sich langsam vom Hafen. Ole Trondson stand an Deck und schaute geradeaus in die Ferne. Sein Blick folgte dem des Löwen, der mit weit aufgerissenem Maul und seiner flatternden Mähne den Weg auf die hohe See wies. Sie würden Tage und Wochen unterwegs sein, am Ende würden es Monate werden. Ole Trondson war das nur allzu recht, auch wenn er es einst geliebt hatte, heimzukehren.
Tage, Stunden und Minuten hatte er gezählt, um die Sekunde zu erspüren, wenn die ersten Schatten des Landes in Sicht kamen. Jung war er da gewesen, zu jung, zu furchtlos und zu unerfahren. Er trotzte den stärksten Winden und dem ärgsten Wetter, er war der Herr der sieben Meere. Mit jeder Schiffsladung, die er in den Heimathafen segelte, war er reicher und mächtiger geworden und am Ende doch ohnmächtig. Macht vernebelte schließlich seine Sinne, Gier sog seinen Verstand auf und als der bittere Verrat in sein Herz tropfte, starb die Liebe.
Der Wind frischte auf und ließ die Betty Balu über den tiefen Gewässern schweben. Selten war das Meer so freundlich zu ihnen gewesen. Rupert Rumpenzahn blickte in den strahlend blauen Himmel. Er war beunruhigt. Schon seit Tagen spürte er seinen hohlen Backenzahn. Doch diesmal war es anders. Der Zahn schien sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen und spie wie ein Vulkan tausend Feuer aus. Unruhe machte sich breit, die Ole Trondson einfach ignorierte. Der Kapitän hielt weiterhin Kurs in Richtung der Sieben Inseln. Seine Anweisungen waren kurz, knapp und äußerst präzise. In den tiefblauen, sternenglänzenden Nächten aber lief er ruhelos über das Deck. Sie würden die Sieben Inseln erreichen, Ole Trondson zweifelte keine Sekunde. Die Rechnungen waren kompliziert gewesen, er hatte sie wieder und wieder überprüft. Im Schnittpunkt der sieben Weltenmeere, 7 Grad südlich des 7 Breitengrades lagen die Sieben Inseln mit ihrem unermesslichen Reichtum … und mit ihren unheilvollen Geschichten, von denen Ole Trondson kein Wort glaubte.
Etwas war anders geworden, er konnte es spüren. Das Meer plätscherte an die dicken Schiffswände, der Wind atmete leise aus, die Segel waren leer. Tiefe Stille legte sich über die Betty Balu und verschlang jedes Geräusch. Nach und nach erschienen die Männer an Deck und nahmen schweigend ihre Plätze ein. Die Nacht war schwarz geworden.
Wie ein Pfeil schoss ein Licht durch die Dunkelheit und traf auf das Meer. Wind brauste auf, jubelte laut und tanzte über die Wellen. Salziges Wasser umgarnte besitzergreifend das Schiff und nahm den Männern die Sicht. Weit über den Masten zeigte das Meer seine blicklose Fratze. Lange hatte es geschlafen, jetzt würde es sich alles holen. Es forderte die Betty Balu zu einem mordlüsternden Tanz, und Betty Balu tanzte. Sie tanzte wie noch nie in ihrem Leben. Weiße Gicht wurde zu Nägeln aus Stahl, die sich an der Reling, auf den Planken und im Mast festkrallten. Unbarmherzig kämpften die Winde miteinander, verbündeten sich mit sich Wassertropfen und wurden zu einem Verderben bringenden Strom, der alles in eine sich verzehrende Stille riss. Endlich brach der Morgen an. Die Ungeheuer der Nacht waren gefangen, gefesselt und lagen tief unten am Meeresgrund.
Hauke Sievers zog an seiner Pfeife, der Geruch des Tabaks lag in der Luft und verflüchtigte sich langsam. „Jetzt kennt Du eine Geschichte der Betty Balu, Lütter.“ Atemlos hatte ich zugehört. Mein Mund stand immer noch offen und mein Rücken schmerzte entsetzlich. Hauke Sievers hatte mich tatsächlich auf einem schiefen Stein sitzen lassen, während er die Geschichte erzählte.
„Aber, aber … was ist denn nun mit der Betty Balu geschehen? Ist sie wirklich gesunken bei den Sieben Inseln und was wollte Ole Trondson überhaupt dort?“ Ich konnte es nicht fassen. Hauke Sievers hatte mir alles und doch nichts erzählt!
„Tja, Lütter, so ist das“, der Segelmacher grinste. „Du kannst mich ja morgen nochmal besuchen. Dann erzählte ich Dir, was in dieser schauerlichen Nacht noch alles passiert ist. Und vielleicht reisen wir auch zu den Glücklichen Inseln hinter den Winden.“ Ach ja, die Glücklichen Inseln hinter den Winden, überlegte ich. Beinahe hätte ich sie vergessen und auch den Löwenkopf mit den sonderbaren Zeichen.
„Aber, aber…! Sie können doch nicht jetzt aufhören… “, rief ich dem alten Segelmacher hinterher.
„Pah, das kann ich schon“, brummte Hauke Sievers und schlug die Tür so schnell hinter sich zu, dass ich gerade noch meine Nasenspitze in Sicherheit bringen konnte. Die fein gehäkelte Spitzengardine hing schief in dem kleinen Fenster.