Briefe an das Leben
Es ist ein ungewöhnlich kalter September, Timm. Der Wind heult über die abgeernteten Felder und schreit seine eigene Geschichte heraus. Durch das Sirren der Luft schiebt sich der fette Dieselgeruch der nahegelegenen Autobahn und legt sich wie eine schwere Decke über die Landschaft. Noch immer stehe ich hier im Wind. Höre das Blätterrascheln der alten Linde, das Knirschen der Kieselsteine unter meinen Schuhen. Vor mir breitet sich der Weg aus. Schnurgerade. Keine Kurve, keine Abbiegung, kein Zurück. Ein gespanntes Seil. Hier und da am Wegesrand stehen Kleeblätter, glänzende Lichter im wogenden Gelb. Vom Herbstwind berührt, von der Sonne gestreichelt. Ich bin frei. Endlich.
Lotta
Der Weg ist nicht gerade, Lotta. Das ist er niemals. Ein jeder Schritt bringt Dich voran, ein jeder Schritt bietet Dir eine andere Aussicht, neue Möglichkeiten. Vergiss nicht, Dich umzuschauen und pflücke die Kleeblätter auch, die Du siehst. Du bist frei.
Timm
Ist das das Bild nicht schaurig und faszinierend zu gleich, Timm? Du findest mich mitten im Trubel dieser Straßenszene. Oh Gott, wirst Du Dir denken. Warum hat sie sich das angetan? Diejenige, deren Nase schon die Witterung aufnimmt, wenn sich auf der anderen Seite der Stadt ein Fenster öffnet und der Muff der vergangenen zwanzig Jahre vertrieben werden soll. Diejenige, die Gerüche aufnimmt und sie abspeichert, wie eine Datei. Und selbst, wenn niemand mehr die Datei aufrufen kann, weil das Dateiformat überaltert ist, dann findet sie die letzte feine Spur, den Grad Geruch, der noch irgendwo durch die Lüfte schwebt.
Du hast recht, ich muss verrückt sein! Aber dieses Gewirr an Menschen, Maschinen, Sprachen hat für mich an dieser Stelle Sinn. Ich kann es verstehen, entwirren, Faden um Faden herauslösen und erkennen. Ich rieche die Freiheit und die Freude, die unter der Haut hervorquillt, sich ausbreitet und in die Welt hinausdringt. Die Angst und den Schmerz, der sich dick und dunstig auf den Boden legt, langsam emporsteigt, dünner wird und zerfließt. Ich höre die Stimmen, erkenne kein Wort und muss es auch nicht, denn die Gesichter sagen mehr. Sie erzählen mir freiwillig, wo sie herkommen, was sie fühlen, und dass sie sich selbst fragen, wohin die Straße führt, die sie tagtäglich hinauf oder hinunter fahren. Die Straße ist lang und sie verändert sich, wird breiter, gibt den Himmel frei. Und am Ende wird sie klein und schmal. Dazwischen, da liegt das Leben. Bunt, wild, unfertig.
Lotta
Zum Krieg in der Ukraine
Die Bilder sind allgegenwärtig. Erbarmungslos dringt der Schrecken des Krieges, der seit Februar 2022 in der Ukraine tobt, in die kleine Welt von Lotta und Timm ein. Es gibt keine Worte dafür und doch machen sie sich auf Weg, um Worte zu finden.
Sie marschieren, Timm. Kannst Du sie hören? Sie marschieren im Gleichschritt. Links, rechts, links, rechts. Schläge auf losem Asphalt. Rechts, links, rechts, links. Die Helme tief im Gesicht. Links, rechts, links, rechts. Das Gewehr im Anschlag. Rechts, links, rechts, links. Er hat sie aus der Pappschachtel geholt und sie sind aufgewacht. Die kleinen Zinnsoldaten in ihren Uniformen. Spielfiguren, hin- und hergeschoben auf einem weißen Tisch. Wahllose Steine in einem Spiel, das niemand gewinnen kann. Schützengraben, Panzerfaust, Ausnahmezustand. Das Grauen ist grobschlächtig, purpurrot und 60.000 Meter lang. Ein Funkenregen in blutdurchtränkter Nacht. Eine Träne, zu viel geweint. Das Wort hat schon lange verloren. Die Gedanken sind verwischt und die Schnüre der Macht verheddert. Der Faden ist gezogen, Timm, und es ist kalt. Es ist winterkalt.
. . .
Timm?
Ja, Lotta.
Es ist Krieg, Timm.
Ich weiß, Lotta.
Mir fehlen die Worte.
Wieviel von Deinem Leben passt in einen Koffer, Timm? Das Spielzeugauto aus verbeultem Blech von Deinem Vater, auf das Du so stolz bist. Das Bild. Deine Mutter glückstrahlend. Der Teddy. Der einst so dicke Pelz grau und dünn. Dieser besondere Brief, ich weiß, Du hast ihn aufgehoben. Dein Abschluss von der Universität. All diese Dinge, die Du gesammelt hast, mit denen Du die Zeit festhalten wolltest. All diese Sachen, die Dich erinnern. An den Moment, an den Augenblick, an Dich. Was nimmst Du mit, wenn es kein Gestern gibt? Wenn das Rattern der Maschinenpistole das Heute zerreißt und das Morgen durch die Angst davonkriecht? Hemd, Hose, Unterwäsche. Zahnpasta, Deo, Pass. Laptop, Handy, Kreditkarte. Wasser, Brot, Kekse. Das bisschen Geld, das immer auf Deinem Schreibtisch liegt. Schließt Du die Tür hinter Dir? Was also legst Du in Deinen Koffer, Timm?
Hoffnung, Lotta. Hoffnung.
Ich lege meine ganze Hoffnung in den Koffer.
Sie haben zu lange gewartet. Hunderttausend Mal zu lange. Die Korridore sind leer, die Türen zu. Verschlagen. Kein Eingang. Kein Ausgang. Schwarze Kartonagen, eingeknickt im Staub des Kanonendonners. Sie haben zu lange gewartet, Timm. Die Zeit hat sie verraten. Ihr Leben. Es liegt in der Waagschale. Achtlos zusammengeknäult und hineingeworfen. Ein Fetzen Papier mit ein paar Buchstaben darauf. Die Erde zerrissen, das Land verbrannt. Mauern zerborsten im Kugelhagel. Durch die Keller wogt die Angst. Schlicht, rein, nackt. Der Staub hat sich in den Straßen festgekrallt. Es ist nicht Tag, es ist nicht Nacht. Der Sekundenzeiger ist abgebrochen, Timm, und die Zeit? Die Zeit ist verstummt.
Nein, Lotta, die Zeit ist nicht verstummt. Sie trauert.